Der Ankereffekt oder was unsere Kontonummer mit New Yorks Ärzte zu tun hat
In diesem Beitrag erfahren sie, was die Anzahl der Ärzte in New York mit ihrer Kontonummer zu tun hat. Außerdem zeigen wir Ihnen, wie sich dieser Zusammenhang in anderer Form auch in der Finanzwirtschaft niederschlägt, indem beispielsweise der Wert einer Aktie nachhaltig beeinflusst werden kann.
Zur Einleitung wollen wir dieses Mal mit einem kleinen Experiment beginnen, an dem jeder, auch zu Hause, teilnehmen kann. Man nehme einen Zettel und schreibe dort die letzten fünf Ziffern seiner Kontonummer auf. Wir kontrollieren nochmals, ob wir die richtigen Ziffern aufgeschrieben haben und wenn das erledigt ist, kommt nun eine Schätzfrage. Diese lautet: Wie viele Ärzte gibt es in New York? Die vermeintliche Antwort schreiben wir unter die Ziffern der Kontonummer.
Jetzt steht natürlich die Frage im Raum, was diese beiden Aufgaben miteinander zu tun hätten. Auf den ersten Blick eigentlich nichts, aber eben nur auf den ersten Blick. Objektiv gibt es keinen kausalen Zusammenhang zwischen Kontonummer und Ärztezahl, unser Gehirn lässt dieser Umstand aber kalt, es erfindet einfach einen Zusammenhang.
Wie drückt sich das denn nun aus, fragen Sie sich bestimmt?
Also mal vorweg: in New York gibt es ca. 65.000 praktizierende Ärzte, eine ansehnliche Anzahl. Tatsächlich tut diese Zahl aber gar nichts zur Sache, viel mehr sind es die Ziffern der Kontonummer die unsere geschätzte Anzahl der Ärzte nachhaltig beeinflussen. In der Regel haben sie, sofern ihre Kontonummer eher mit 5 hohen Ziffern endet, die Ärztezahl tendenziell deutlich überschätzt, während sie bei 5 eher niedrigen Ziffern eher deutlich unterhalb der Zahl von 65.000 lagen. Den allermeisten Menschen geht es dabei genau gleich. Die Kontonummer hat tatsächlich einen messbaren Einfluss auf die geschätzte Zahl.
Wenn Menschen schon Kontonummern und Ärztezahlen so durcheinanderbringen - dann gilt das umso mehr für Situationen, in denen die Zahlen ähnlich sind.
Der Experte spricht in diesem Fall vom sogenannten Verankerungs-Effekt, in Fachkreisen unter dem englischen Fachausdruck Anchoring Bias bekannt. Der Begriff stammt aus Kognitionspsychologie und stellt eine sogenannte Denkfalle dar: Menschen werden bei Entscheidungen von Umgebungsinformationen beeinflusst, ohne dass ihnen dieser Einfluss bewusst wird. Die Umgebungsinformationen werden als der „Anker“ bezeichnet, an dem sich die Entscheidung orientiert.
Der Effekt wird vor allem dort sichtbar, wo es um Zahlen, etwa Preise für Waren in einem Supermarkt, geht. Wer hier dennoch Zweifel an einem Zusammenhang hegt, der findet den Beweis beim Wirtschaftspsychologen Drazen Prelec. Er hat das oben angeführte Experiment in ähnlicher Weise an seiner Universität wiederholt. Allerdings ließ er seine Studenten nicht die Zahl der Ärzte in New York schätzen. Stattdessen stellte er auf sein Pult eine Flasche mit teurem französischem Rotwein, eine Funktastatur und eine Packung Pralinen. Die Studenten sollten auf Papierblättern zunächst ihre Sozialversicherungsnummer (in ihrer Bedeutung in den USA vergleichbar mit der italienischen Steuernummer) notieren und anschließend, wie viel Geld sie für jedes der drei Dinge auf dem Pult ausgeben würden.
Die Wirtschaftsstudenten an der Eliteuniversität „Massachusetts Institute of Technology“, die gerade ihren Master machten, also schon einige Jahre studiert hatten und zum Teil auch etwas Berufserfahrung mitbrachten, fielen auf demselben Effekt rein. Auch sie konnten sich dem Anker, den ihre Sozialversicherungsnummer bildete, nicht entziehen. Je höher die notierten Ziffern waren, desto mehr Geld hätten die Studenten für den Wein, die Tastatur und die Pralinen ausgegeben.
Anchoring in der Finanzwirtschaft
Nun stellt sich natürlich die Frage, weshalb in einem Newsletter zu Finanzthematiken dieser Verankerungseffekt erwähnt wird. Tatsächlich geht es in der Finanzwirtschaft in erster Linie um Zahlen, entsprechend findet der Bias gerade dort seinen Niederschlag.
Zum besseren Verständnis wollen wir uns an dieser Stelle ein praktisches Beispiel betrachten: Angenommen der Börsenkurs einer Aktie des Unternehmens A liegt im Moment bei 19 Euro.
Ein zweites Unternehmen B unterbreitet nun Unternehmen A ein öffentliches Übernahmeangebot von 31 Euro je Aktie. Dies hat zunächst den Effekt, dass der Aktienkurs A zunächst ansteigt, da deren Aktionäre und anderen Investoren Hoffnungen hegen, satte Kursgewinne einzufahren. Der Aktienkurs A nähert sich den gebotenen 31 Euro.
Angenommen Unternehmen A lehnt das Übernahmeangebot durch B einige Tage später ab. Und genau an dieser Stelle kommt der Verankerungseffekt zum Tragen. Durch das Übernahmeangebot in Höhe von 31 Euro wurde nämlich ein Anker gesetzt. Dieser Anker bleibt auch dann bestehen, wenn Unternehmen A entscheidet, das Angebot zurückzuweisen. Da effektiv am Ende nichts passiert ist, die Übernahme also zum gebotenen Preis nicht über die Bühne geht, sollte der Kurs wieder zurück auf sein altes Niveau fallen. Durch den gesetzten Anker bei 31 Euro passiert es aber in der Regel, dass der Kurs zwar wieder sinkt, aber dass das alte Preisniveau dabei von der Masse der Anleger als ungenügend berücksichtigt wird, der Anker also überwiegt und sich somit ein Kurs irgendwo zwischen 19 und 31 Dollar einstellt.
Ungeachtet neu auftretender Informationen hätte sich dann der Wert einer Aktie des Unternehmens A ohne substanziellen Grund vergrößert. Es findet also eine Preisverzerrung statt.
Im Bereich der Finanzwissenschaften wird dieser Effekt übrigens in der Behavioral Finance beschrieben und erforscht.
Lassen sich solche Anker wieder lichten? Kaum. Da hilft alles Mitdenken nichts. Schließlich weiß jeder sowieso schon im Schlaf, dass Kontonummern gar nichts mit der Ärztezahl in New York zu tun haben - trotzdem fallen die meisten Menschen auf diesen simplen Trick herein.